Das Sägemehl spritzt, die Kulisse ist gewaltig, das Panorama ebenso. Während das Schweizer Fernsehen live überträgt, sind mehr als 50.000 Zuschauer in einem der größten temporären Stadien der Welt versammelt. Der Blick aus der sechseckigen, über mehr als zwei Monate eigens aufgebauten Arena führt weit hinaus zu bewaldeten Hügeln und fernen Bergkämmen.
Doch für das Drumherum hat Joel Wicki keine Muße. 110 Kilogramm Gewicht bringt er bei 1,83 Meter Körpergröße auf die Waage – dahinter verbirgt sich reine Muskelmasse, gewonnen aus Krafttraining und landwirtschaftlicher Arbeit auf dem eigenen Hof bei Luzern. Sein Gegenüber Matthias Aeschbacher ist nicht weniger ein Koloss. Wie ineinander verhakte Bullen schieben und zerren sich die Kontrahenten durch den runden Ring, der aus einem Bett von Sägemehl besteht. Dabei fassen sich die beiden Männer an ihren kurzen, reißfesten Überhosen und versuchen, den anderen auf den Boden zu werfen.
Wicki muss mehrere heikle Momente überstehen, doch er kann sich jedes Mal befreien – und nach fast 13 Minuten kommt schließlich der Moment, der dem Namen dieses Sports alle Ehre macht: Schwingen. Er hebt seinen Gegner erst in die Luft, als sei er nur ein Pappkamerad, und schmeißt ihn mit Schwung auf den Rücken. Seit dieser fulminanten Aktion Ende August 2022 beim Eidgenössischen Schwingund Älplerfest in Pratteln bei Basel ist Wicki „Schwingerkönig“. Bis 2025 wird Ihre Majestät vom Sägemehl-Ring amtieren, erst dann muss der inzwischen 27-Jährige seine Herrschaft verteidigen.
Schweizer Kultur pur
Dabei verkörpert der Titel in dieser besonderen Form des Freistilringens viel mehr als eine sportliche Auszeichnung. Schwingen – auch Hosenlupf genannt – ist Nationalsport und Schweizer Kultur in einem: „Der Schwingsport ist Swissness“, erklärt der König selbst. „Die Schweizer Kultur wird an einem Schwingfest gepflegt, es wird gejodelt, gejuchzt, Alphorn gespielt, Fahnen geschwungen und natürlich Mann gegen Mann oder Frau gegen Frau gekämpft. Außerhalb der Schweiz betreiben höchstens noch ein paar ausgewanderte Schweizer in den USA unseren Sport.“
Schwinger sind in der Alpenrepublik so populär wie sonst nur die Fußballer der „Nati“ oder Roger Federer. „Mich erkennen mehr Leute auf der Straße und ich habe mehr Anfragen von Firmen für Autogrammstunden, Interviews oder Podiumsgespräche“, beschreibt Wicki sein Leben als „Schwingerkönig“. Außerdem habe er „viele neue Menschen in meinen Leben kennenlernen dürfen“, darunter Roland Mack.
Begeistert vom Europa-Park
Organisiert vom Schweizer Zirkuspfarrer Ernst Heller, der den Europa-Park viele Jahre als Seelsorger bereicherte, besuchte Wicki zusammen mit Freunden zum ersten Mal das Europa-Park Erlebnis-Resort. „Ich war vorher noch nie im Europa-Park. Meine Freunde versuchten, mich immer davon zu überzeugen, ich war jedoch skeptisch. Sie haben mich quasi ein bisschen überredet und ich bin ihnen wahnsinnig dankbar dafür,“ zeigte sich der Schwinger-König begeistert. „Alleine die Dekoration der Straßen, die verschiedenen Attraktionen, die tollen Bahnen und das hervorragende Essen. Mein Favorit waren die Piraten in Batavia.“ Das persönliche Treffen mit Inhaber Roland Mack bildete für Wicki ein weiteres Highlight: „Was die Familie Mack aufgebaut hat, ist wahnsinnig beeindruckend. Ich bin definitiv nicht das letzte Mal im Europa-Park gewesen.“
Roland Mack und Joel Wicki unterwegs im Schweizer Themenbereich.
Wieder zurück auf seinem Hof, baute er einen neuen Stall auf. Die letzte Saison musste er vorzeitig aufgrund einer Verletzung beenden, doch längst trainiert er wieder. Bereits als Kind hatte Wicki zwei große Träume: Bauer werden – und „Schwingerkönig“. 2019 war er im „Schlussgang“, wie das Finale im Schwingen heißt, noch unterlegen. 2025 will er den Titel gegen die anderen „Bösen“ verteidigen. So wird die Elite des Schweizer Nationalsports tatsächlich genannt. Der Begriff stammt aus den Urzeiten der schon seit Jahrhunderten betriebenen Körperertüchtigung. „Das darf man nicht wörtlich nehmen“, versichert der heutige König der Schwinger. „Wir sind alle lieb.“
Nach dem Schlussgang in Pratteln liegen Wicki und sein Kontrahent Aeschbacher kurz wie tote Käfer auf dem Boden. Doch sogleich folgen Handschlag und Umarmung. „Mich motiviert der Zweikampf im Sägemehl sehr stark“, gibt Wicki einen abschließenden Einblick in die besondere Schwinger-Kultur. „Aber nach dem Kampf – gewonnen oder verloren – wird der Gegner wieder zum Kameraden.“
Text: Christoph Ertz
Fotos: Tobias Meyer
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