Einstechen, auflegen, durchziehen, abheben. Immer wieder wiederholt Gisela Schlenker die fließenden Bewegungen der Nadeln und des Fadens, der über den Zeigefinger gehoben wird. Etwa 70 Paar Strümpfe oder Socken strickt sie im Jahr. „Ich habe eine leichte Hand, das ist mir angeboren“, sagt sie. Das Stricken ist für sie aber nicht nur ein privater Zeitvertreib. Seit mehr als zehn Jahren schlüpft sie damit auch in eine Rolle als lebensechte Darstellerin im Europa-Park.
Ähnlich wie eine Gänsemagd des Öfteren durch den Europa-Park spaziert, sitzt Gisela Schlenker regelmäßig in einem altertümlichen, aber vornehmen Kleid im Foyer des Hotels „Bell Rock“. Mit einer Kollegin wechselt sie sich als „Strickoma“ ab. „Vor elf Jahren kam meine Tochter nach Hause und meinte: Der Europa-Park sucht so jemand“, erzählt sie. „Ich habe sofort beim Park angerufen: Das mache ich.“ Die Idee dazu hatte Europa-Park-Chef Roland Mack. „Mit solchen Details versuchen wir immer wieder, die Gäste auf eine besondere Art und Weise zu überraschen“, erklärt er. „Das unterscheidet uns von allen anderen Freizeitparks auf der ganzen Welt.“ Seither ist Gisela Schlenker als geringfügig Angestellte die älteste Mitarbeiterin des Europa-Park.
Den 90. Geburtstag gefeiert
Denn die waschechte Südbadenerin aus dem Ruster Nachbarort Rheinhausen strickt bereits seit der vierten Klasse. Und das ist lange her: Im September 2024 ist Gisela Schlenker 90 Jahre alt geworden. Die Strickoma des „Bell Rock“ blickt auf ein bewegtes Leben zurück. „Ich war fünf, als der Zweite Weltkrieg ausbrach, ich habe alles bewusst miterlebt.“ Der Vater fiel in Russland, das elterliche Haus brannte ab. „Als Kind habe ich in Freiburg Steine zum Wiederaufbau geklopft“, erläutert sie. Mit 14 arbeitete sie bereits als Hausmädchen in Hinterzarten. Ihre geschickten leichten Hände waren dann aber die Grundlage für einen beruflichen Aufstieg in der Textilindustrie. Bis zu einer europäischen Betriebsratsvorsitzenden in einem großen Unternehmen brachte sie es. „Ich habe 49 Jahre Vollzeit gearbeitet“, betont sie. 25 Jahre war sie darüber hinaus im Gemeinderat von Rheinhausen aktiv.
Im „Bell Rock“ ist Gisela Schlenker als Strickoma stets von freitags bis sonntags an Nachmittagen zu erleben. Ihre Rolle ist einfach: Sie sitzt da und strickt – so wie es auch viele ältere Damen im Neuengland des 18. Jahrhunderts taten, an dessen geschichtlichem Flair sich das 2012 eröffnete Hotel orientiert. „Da zeigt sich wieder, wie sehr der Europa-Park auf jedes Detail achtet“, denken nicht wenige Gäste.
Ein Bundespräsident erkundigt sich
So mancher kann es aber erst gar nicht glauben, was er da sieht: „Ist die echt? Ist das eine Puppe?“ Manchmal bewegt sich die Strickoma nicht, bis die Menschen ganz nahegekommen sind. „Das Lachen ist dann immer groß“, freut sie sich. „Wie nett, das ist so schön, dass Sie hier sitzen, es ist soberuhigend“, hört sie häufig. Unter öfter wiederkehrenden Gästen hat sie sogar regelrechte Fans, mit denen sie sich auch länger unterhält. Einmal kommt ein Mann mit seiner Frau und einem kleinen Kind zu ihr: „Entschuldigen Sie bitte, unser Sohn lässt uns keine Ruhe. Er will unbedingt wissen, was diese Frau da macht.“ Es ist der frühere Bundespräsident Christian Wulff. Da Wulff zu den Freunden der Familie Mack zählt und regelmäßig in Rust weilt, kam es auch schon zu einem Wiedersehen: „Der Junge ist jetzt groß und begrüßt mich weiterhin“, berichtet Gisela Schlenker.
Manchmal wird ihr der Trubel auch zu viel. Dann springt ihre Tochter ein. Sie muss sich allerdings eine Perücke anziehen. „Sie hat viel dünneres Haar als ich“, lacht die inzwischen 91-jährige Strickoma. „Bei mir ist dagegen tatsächlich alles echt.“
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