Lernen von den Schmetterlingen

Die Bionik nimmt sich die Natur als Vorbild für Technik / Karlsruher Institut für Technologie (KIT) / Besuch bei Professor Hendrik Hölscher, der unter anderem dem Geheimnis des Sandfischs auf der Spur ist

Jeder kennt den Klettverschluss. Allerdings ist sich kaum jemand bewusst, dass es sich dabei um ein Bionik-Produkt handelt. Der Schweizer Ingenieur Georges de Mestral (1907-1990) entdeckte das Prinzip für diesen Verschluss Ende der 1940er Jahre. Immer wenn er mit seinem Hund von der Jagd zurückkam, waren beide voller Kletten. De Mestral untersuchte den Haltemechanismus der Klettfrucht unter dem Mikroskop und baute ihn nach. Der Begriff Bionik setzt sich aus den beiden Wörtern Biologie und Technik zusammen. Wer Bionik betreibt, strebt also nach Innovationen, für die er Vorbilder in der Natur findet.

Seit 1960 gibt es dieses Kunstwort. Aber schon immer setzten sich Wissensdurstige mit der Natur auseinander, um daraus praktische Erkenntnisse zu gewinnen. „Auch beispielsweise unser Schreibpapier ist bionisch inspiriert“, sagt Professor Hendrik Hölscher. Bis ins 19. Jahrhundert dienten Lumpen und Hadern als Faserrohstoff für die Papiererzeugung, doch ihre Mengen konnten mit dem stetig steigenden Papierbedarf nicht Schritt halten. In jahrelanger Tüftelei gelang es dem sächsischen Erfinder Friedrich Gottlob Keller (1816-1895), aus geschnitzeltem und chemisch aufgeweichtem Holz billig Papier herzustellen. Auf das noch heute übliche Verfahren kam er, als er Wespen beobachtete und feststellte, dass sie zum Bau ihrer Nester Holzfasern zu einer papierähnlichen Masse verarbeiten. 

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Roboter-Ameisen wurden bereits auf der Hannover Messe präsentiert.

„Selbst moderne Navigationssysteme finden unter anderem deshalb den besten Weg von A nach B, weil sie nach dem so genannten Ameisenalgorithmus programmiert sind“, erläutert Hölscher weiter. Bionik steckt also bereits in vielen alltäglichen Produkten.

Inzwischen suchen Ingenieure, Mediziner und Forscher sogar immer öfter Lösungen für technische Probleme in der Natur. Auch Hendrik Hölscher ist passionierter Bioniker. Beim Karlsruher Institut für Technologie (KIT) leitet er die Arbeitsgruppe Biomimetische Oberflächen am Institut für Mikrostrukturtechnik. „Am KIT gibt es etwa ein halbes Dutzend Gruppen, die sich ebenfalls mit Bionik beschäftigen“, so der Physiker. „Wir gehören mit zu den führenden Einrichtungen auf diesem Gebiet in Deutschland.“ Unter anderem versuchen die Karlsruher Wissenschaftler, Strukturen von Fauna und Flora bis zur winzig kleinen Nanoebene zu analysieren, um deren Geheimnisse zu entschlüsseln und daraus Grundlagen für neue Produkte zu entwickeln.

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Professor Hendrik Hölscher

Pionier der Bionik
Ihr Augenmerk gilt etwa der Wasserpflanze Salvinia – eigentlich ein unscheinbarer tropischer Schwimmfarn. Aber die Pflanze verfügt über eine erstaunliche Eigenschaft: Dank feiner Haare auf der Blattoberfläche bleibt sie unter Wasser völlig trocken. „Nach diesem Vorbild haben wir ein Material hergestellt, das wir Nanopelz nennen“, beschreibt Hölscher. „Die Oberfläche stößt Wasser ab und zieht Öl an. Damit lassen sich kleinere Ölverschmutzungen bekämpfen, ohne die Umwelt durch Chemikalien weiter zu verunreinigen.“ Das dahinterstehende Prinzip könnte ebenfalls dazu genutzt werden, um den Reibungswiderstand bei Schiffen herabzusetzen und sie leichter und somit treibstoffärmer durchs Wasser gleiten zu lassen. „Dieses Projekt wird vor allem in der Arbeitsgruppe von Professor Thomas Schimmel am Institut für Nanotechnologie verfolgt“, berichtet Hölscher. 

Noch aktiv am KIT ist außerdem Claus Mattheck. Der vielfach ausgezeichnete und inzwischen emeritierte Physikprofessor gilt als einer der Pioniere der Bionik in Deutschland. Mattheck widmet sich besonders der Biomechanik und hat unter anderem eine Software entwickelt, mit der sich Bauteile nach dem Vorbild der Natur optimieren lassen.
Um die Natur zu entschlüsseln und nachzubauen, setzen die KIT-Wissenschaftler Hightech-Geräte und -Mittel wie optische Spektrometer, Rasterkraftmikroskope oder superkritisches CO2 ein. Aber auch der botanische Garten des KIT kann zur Inspiration herangezogen werden. Er liefert die Versuchspflanzen für das Botanische Institut und ist einer von nur 90 botanischen Gärten in ganz Deutschland.

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Der auf einem Schwimmfarn basierende Salvinia-Effekt könnte bei Schiffen den Kraftstoffverbrauch senken.

Für die interessierte Öffentlichkeit werden regelmäßig Führungen unter dem Titel „Bionik – Vom Lotuseffekt bis zum Klettverschluss“ angeboten und Beispiele aus der Pflanzenwelt, deren Biologie und Übertragung auf die Technik, gezeigt.

Solarzellen nach Art des Schmetterlings
Die bevorzugte Ideenquelle für Professor Hölscher hängt allerdings in seinem Büro an der Wand: ein Schmetterlingskasten. „Die Flügel von Schmetterlingen beruhen auf dem gleichen Material: Chitin. Aber sie haben verschiedene Farben und Eigenschaften“, ist der Bioniker begeistert. „Das geschieht allein durch Unterschiede in den Strukturen, ohne dass das Material geändert werden muss. Viele Effekte aus der Natur lassen sich wahrscheinlich gar nicht umsetzen, aber nach dem Beispiel des Schmetterling-Flügels haben wir bereits eine Oberfläche für Solarzellen entwickelt, die das Sonnenlicht besser absorbiert und die Effizienz der Anlagen um bis zu 200 Prozent steigert.“

Als weiteren Pate aus der Tierwelt haben Hölscher und sein Team auch den weißen Blatthornkäfer herangezogen. Er ist etwa zwei bis drei Zentimeter lang und lebt in der Regel in Indonesien. Es wird vermutet, dass der Käfer die weiße Farbe zur Tarnung angenommen hat, denn so kann er sich auf helle Pilze setzen und ist dann kaum sichtbar. Unter dem Elektronenmikroskop lässt sich erkennen, wieso er so weiß aussieht. Auch hier ist es wieder eine besondere Nanostruktur des Chitinpanzers. Sie sorgt für eine Streuung des Lichts, die den Käfer weiß wirken lässt. Diese Struktur hat Hölscher mit seinem Team in einer sehr dünnen, flexiblen Kunststofffolie mit hellweißer Optik nachgebildet. Sie könnte bei Möbeln, Papier oder Wandfarbe für ein strahlendes Weiß sorgen, ohne Pigmente wie das umstrittene Titandioxid zu verwenden, das in der Herstellung viel Energie benötigt und in Verdacht steht, gesundheitsschädlich zu sein.

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Ein weißer Käfer dient als Vorbild für Wandfarbe ohne Pigmente.

Wie macht der Sandfisch das?
Die Geheimnisse der Natur sind aber oft nicht einfach zu entschlüsseln. Das zeigt der Sandfisch. Die Eidechse schwimmt geradezu durch den Wüstensand. Wenn es ihr an der Oberfläche zu heiß oder gefährlich wird, verschwindet sie im Nu im Sand – als ob sie in Wasser eintauchen würde. Auch unter dem Sand schlängelt sich der Sandfisch scheinbar mühelos herum. Weltweit befassen sich Forscher mit dem faszinierenden Reptil. „Aber niemand kann seine Fähigkeiten bislang wirklich überzeugend erklären“, betont Hölscher. „Wir vom KIT finden die Nanostrukturen in den Schuppen eine vielversprechende Spur.“ Wird das Geheimnis des Sandfischs geknackt, könnten daraus beispielsweise Solaranlagen besser auf die dafür eigentlich idealen Wüstenstandorte ausgerichtet werden, wo bislang der Sand die Effizienz der Module erheblich einschränkt.

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Der Sandfisch (unten) gibt aber immer noch Rätsel auf.

Im „Tal des Todes“
Neben der „geheimniskrämerischen“ Natur gibt es noch einen weiteren Faktor, der dazu führt, dass Technik inspiriert von der Natur nicht schon stärker in praktischen Produkten Einzug gehalten hat: ein „Tal des Todes“! So nennen es die Bioniker tatsächlich, wenn sie mit ihren Erfindungen an die Industrie herantreten – die Umsetzung dann aber nicht selten an den Erwartungen der Unternehmen scheitert. „Heute wird oft erst gehandelt, wenn gesetzliche Vorgaben bestehen“, erläutert Hölscher. „Allerdings dürfte es in Zukunft immer mehr Dinge geben, die umweltschonender und energiesparender sind. Dazu wird die Bionik noch viele Anregungen beisteuern.“

Christoph Ertz 

botanik.kit.edu/garten/


Professor Mattheck und das Dilemma der Kerben
Einer der bekanntesten Bioniker Deutschlands ist noch immer der in Karlsruhe lebende Physiker Claus Mattheck. Der inzwischen emeritierte Professor für Schadenskunde am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) entwickelte unter anderem die Visual-Tree-Assessment-Methode zur Untersuchung von Bäumen anhand ihrer äußeren Gestalt. Über die Interpretation der Körpersprache von Bäumen hilft das Verfahren seit Jahren dabei, beispielsweise die Verkehrssicherheit von Bäumen am Straßenrand besser beurteilen zu können – und sie möglichst rechtzeitig aus dem Verkehr zu ziehen, falls sie schadhaft sind.

Der 1947 in Dresden geborene Mattheck hat mehr als 15 Bücher veröffentlicht und ihm wurden rund ein Dutzend Patente erteilt. 2003 erhielt der Experte für Bauteiloptimierung den Deutschen Umweltpreis. In einem Interview mit dem Report vor einigen Jahren erklärte er auf die Frage: Warum gehen viele Dinge kaputt? „Wir sind umgeben von Kerben, deren Form nicht optimal ist. Wem schon mal die Fahrradpedale oder die Schlüssel abgebrochen sind, wird feststellen, dass sich an der Bruchstelle immer eine Kerbe befand. Dort treten hohe Spannungen auf, so genannte Kerbspannungen. Bei Belastungen können sich Risse bilden, die schließlich zum Bruch führen. Wie sich das vermeiden lässt, machen Bäume und Knochen vor. Durch Umlenken des Kraftflusses werden Kerbspannungen in Knochen oder Bäumen vollständig vermieden.“

www.mattheck.de

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