Jung-Handwerker verhelfen historischer Bahnhofsuhr zu Kult-Uhr-Status
Reicht die Zeit noch für ein Glas Sekt und ein Häppchen vor Beginn der Vorstellung im Festspielhaus Baden-Baden? Ein Blick auf die Bahnhofsuhr beruhigt: Erst in 45 Minuten wird sich der Vorhang heben, da können auch noch entspannt ein paar Selfies in schicker Abendgarderobe geschossen werden. So mancher auswärtige Besucher fragt sich aber doch, was eigentlich die offensichtlich historische Bahnhofsuhr im modernen Kulturtempel verloren hat? Dabei ist sie doch nur (fast) an ihren angestammten Platz zurückgekehrt.
Einst dürfte so mancher hochherrschaftliche Blick auf ihrem Zifferblatt geruht haben, denn sie war Bestandteil des ehemaligen großherzoglichen Bahnhofs. Fürstlichkeiten – an der Spitze Kaiser Wilhelm I. –, Künstler, Prominente und gut betuchte Kurgäste trafen aus aller Welt hier ein, genossen im „Fürstenzimmer“ Erfrischungen und warteten auf den Weitertransport in das Zentrum des mondänen Kurbads. Bis 1977 gab es noch eine Gleisverbindung zum Bahnhof in Oos, dann schien das Schicksal Abstellgleis oder Schrottplatz besiegelt. Während die Gleise und Teile der unter Denkmalschutz stehenden Bahnsteighalle zerlegt und als Station für die Albtalbahn nach Bad Herrenalb gebracht wurden, blieb das Empfangsgebäude zwar stehen, das Inventar und auch die Bahnhofsuhr wurden aber auf mehrere städtische Depots verteilt – und vergessen.
Bevor die Stunde des fast schrottreifen Zeitmessers jedoch endgültig geschlagen hatte, nahte die Rettung in Person von Helmut Oehler: Der Geschäftsführer der Stadtwerke Baden-Baden erklärte die Bahnhofsuhr zum Projekt für angehende Elektroniker und Industriemechaniker – eine echte handwerkliche Herausforderung, wie sich bald herausstellte. Wohl in keinem der insgesamt elf Ausbildungsbereiche der Stadtwerke (unter anderem Industriemechaniker, Anlagenmechaniker, Elektroniker, Fachkraft für Wasserversorgungstechnik und Abwassertechnik, Kraftfahrzeug-Mechatroniker, Berufskraftfahrer, Bäderbetrieb, kaufmännische Berufe) gab es bisher ein Projekt, das dem Umfeld der jungen Leute so fremd war. „Man musste ihnen immer wieder klar machen, was da eigentlich von ihnen bearbeitet wurde“, schmunzelt Peter Riedinger, Technischer Leiter Ver- und Entsorgung.
„Star“ des Jubiläums
Er selbst hoffte, dass der ursprüngliche Plan, die restaurierte Uhr wieder an alte Stelle zurückkehren zu lassen, wahr werden würde. Und tatsächlich:
Nach einem Ortstermin mit der Geschäftsführerin des Festspielhauses, Ursula Koners, dem Leiter Gebäudemanagement, Lars Sarnow, dem Geschäftsführer der Stadtwerke, Helmut Oehler, und ihm selbst wurde der ideale Platz in der ehemaligen Bahnhofsvorhalle gefunden. Was also eigentlich eher als „Lückenbüßer“ im technischen Ausbildungsbereich vorgesehen war, sollte sich im vergangenen Jahr zum „Star“ bei der großen Jubiläumsgala zum 25-jährigen Bestehen des Festspielhauses entwickeln: Gemeinsam mit ihrem Ausbilder präsentierten die Industriemechaniker Jannik Wieland und Cedric Burgert sowie die Elektroniker Noah Schulz und Vanessa Sax das Projekt, in das sie zweieinhalb Jahre voller Schwierigkeiten und Herausforderungen investiert hatten. Auf der Festspielhausbühne übergaben sie symbolisch – und voller Aufregung – unter großem Beifall ihr Werk der Öffentlichkeit.
Unkonventionelle Lösungen gefunden
„Sie fanden es zum Schluss aber doch ganz cool, dass ihr Ausbildungs-Projekt nicht irgendwo als kleiner Staubfänger herumsteht, sondern dass sie mal in ein paar Jahren ihren Kindern im Festspielhaus die Uhr zeigen können, der sie zu neuem Leben verholfen haben“, berichtet Riedinger. Bis das rund 200 Kilogramm schwere Prachtstück in rund drei Metern Höhe mithilfe des Steigers der Bühnentechnik seinen endgültigen Platz in der Bahnhofshalle, dem jetzigen Festspielhausfoyer, eingenommen hatte, waren Können und Mut zu unkonventionellen Lösungen angesagt. „Keine Schraube war noch funktionsfähig“, erinnert sich Riedinger. Das total verdreckte und verbeulte Gehäuse wurde völlig entkernt, und dann mussten die Auszubildenden sich in der „Lehrwerkstatt Uhr“ bewähren. Schrauben, Plasmaschneiden, Schweißen, Spachteln, Fräsen, Sandstrahlen, Auswuchten ... Metall wurde gebogen und gelötet sowie eine komplett neue Elektronik verbaut. Die historischen Zifferblätter waren längst gesprungen, sie wurden stilgerecht nachempfunden und durch zwei neue Glasscheiben, die jede rund 20 Kilo wiegen, ersetzt. Fit für die Neuzeit wurde die alte Uhr durch energiesparende LED-Technik, gesteuert wird das ursprünglich mechanische Uhrwerk über Funk.
Den großen Aufwand, den dieses sehr besondere Ausbildungsprojekt der Stadtwerke Baden-Baden von allen Beteiligten abverlangte, kann sich wohl kaum ein Besucher im Festspielhaus – zumal festlich gestimmt und mit Smartphone in der Hand – heute vorstellen. Wie selbstverständlich erfüllt die historische Uhr ihren Zweck und dokumentiert unauffällig auch die gute, zeitgemäße Zusammenarbeit zwischen den Stadtwerken und dem Festspielhaus Baden-Baden als städtische Immobilie.
Irene Schröder
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